Nightmare on Elmstreet

Okkulte Filminhalte: Rezeptionsstrategien bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen 1)

 

 

Gerhard Mayer


Zusammenfassung – Ziel dieser Studie war die Analyse individueller Rezeptionsstrategien von okkulten Filminhalten bei Jugendlichen. 50 Jugendlichen wurde in Einzelsitzungen jeweils ein Teil eines Horrorfilmes vorgeführt. Die Darbietung wurde an mehreren Stellen unterbrochen und Fragen zu dem gerade Gesehenen gestellt. Weitere Daten konnten mittels Fragebögen gewonnen werden. Zwischen einer Vorliebe für das Filmgenre Horror und einer starken Orientierung an okkulten bzw. nicht-rationalen Filminhalten muss unterschieden werden: Horrorfans zeichneten sich weder durch ausgeprägtere okkulte Belief-Systeme noch durch eine signifikant stärkere Orientierung an nicht-rationalen Filminhalten aus. Andere Themenbereiche, nämlich Aggressivität und Sexualität, spielen eine wichtigere Rolle. Außerdem ließ sich bei der Vorliebe für das Genre Horror eine Entwicklungsabhängigkeit feststellen: In den Bereichen "Politik" und "Sexualität" hat bei Horrorfans tendenziell eine weitergehende Auseinandersetzung stattgefunden, als dies bei den anderen Probanden der Fall war. Hingegen zeigte sich, dass eine starke Orientierung an okkulten bzw. nicht-rationalen Filminhalten mit emotionaler Labilität und einer pessimistischen Grundeinstellung sowie mit der Ausbildung okkulter Belief-Systeme zusammenzuhängen scheint. Eine Abhängigkeit vom Entwicklungsstand konnte hier nicht nachgewiesen werden. Neben der quantitativen Auswertung der Daten wurden Einzelfälle genauer analysiert, um ein plastisches Bild individueller Rezeptionsstrategien zu gewinnen.

 

Abstract – The purpose of this study was the investigation of individual strategies in the reception of occult contents in films by young persons and of differences between horror fans and other young persons. A part of a horror film was shown to 50 adolescent subjects in single sessions. The film was stopped at several points, and the subjects were asked questions about what they had just seen. More data were collected by giving a questionnaire. It must be differentiated between liking the horror genre and a strong orientation to occult or non-rational content in films: Contrary to our expectations horror fans do not have a specificly strong orientation to non-rational contents in films. Also there was found no significant correlation with the development of occult belief systems. Other topics such as aggressivity and sexuality are more important. Besides there seemed to be a relationship to the development of ego identiy in the case of those liking the horror genre. These people had dealt thoroughly with their political beliefs and sexuality. However it was found that an orientation to occult or non-rational content in films correlates with emotionality, a pessimistic attitude and also with the developement of occult belief systems, but no dependency on development of ego identity. In addition to the quantitative evaluation of the data case studies were analyzed in order to get a close picture of individual differences in the reception of such films.


Inhalt:

1. Einführung
2. Problemstellung
3. Hypothesen
4. Methode
5. Ergebnisse
6. Einzelfalldarstellungen
7. Grundformen des Umgangs mit okkulten Darstellungen im Film
8. Diskussion
Literaturverzeichnis


1. Einführung

 

In der Medienforschung mußte man von der Vorstellung, die Rezipienten von visuellen Medienangeboten seien weitgehend passive Wesen, deren Aktivität während der Rezeptionssituation vor allem im Gang zum Kühlschrank und im Griff in die Chipstüte besteht und die ansonsten der Flut von Bildern hilflos ausgesetzt sind, Abstand nehmen. Die traditionelle Wirkungsforschung, die sich seit Jahrzehnten um einfache, verallgemeinernde Aussagen bezüglich Wert, Wirkung und Gefahren des Medienkonsums bemüht hatte, konnte nur wenig imponierende Ergebnisse vorweisen, wie McGuire 1986 in einer Metaanalyse gezeigt hat. Für einige Wissenschaftler wurde auch aufgrund dieses Befundes die Frage nach den individuellen Rezeptionsstrategien interessant, mit denen die Zuschauer Medienangebote auswählen, wahrnehmen und verarbeiten (z. B. Bachmair 1990; Charlton, Borcsa, Mayer, Haaf, & Kleis 1996; Charlton & Neumann 1990; Pette & Charlton 1997; Luca 1993).

Forschungsansätzen, die die "konstruktiven, sinnerzeugenden Aktivitäten der Leser und Zuschauer" (Charlton 1997: 16) zum Gegenstand haben, schränken die Möglichkeiten, klare und handlungsleitende Bewertungen des Medienangebotes zu stützen bzw. zu fundieren, stark ein – dies ist nicht ihr Ziel. Mit dem Blick auf die Rezipienten als Handelnde läßt sich jedoch ein differenziertes Verständnis für die Funktionen des Mediengebrauchs im sozialen Kontext gewinnen, das zu einer angemessenen Bewertung der Medienangebote führen kann und vor dem "Sündenbock-Syndrom" schützt, bei dem soziale Missstände und gesellschaftlich unerwünschte Verhaltensweisen als Auswirkungen der Medien "gewünscht" werden. In solchen Projektionen nämlich erscheinen die Probleme mit einfachen Lösungen behebbar und eine tiefergehende Auseinandersetzung wäre nicht nötig.

Horrorfilme (und in jüngerer Zeit auch gewaltverherrlichenden Computerspiele) sind beliebte Kandidaten für eine Sündenbockfunktion. Ihnen wird häufig ein negativer Einfluß auf die persönliche Entwicklung und auf die Herausbildung von gesellschaftlich als kritisch betrachteten Verhaltensweisen bei Jugendlichen zugesprochen. Die Rezeption von Horrorfilmen stellt ein jugendtypisches Phänomen dar, d.h. solche Filme werden für Jugendliche produziert und vorwiegend von ihnen gesehen. Das legt die Vermutung nahe, dass diese spezifischen Filminhalte bzw. die damit verknüpften Rezeptionssituationen entwicklungsrelevante Themen bergen. Moderne Horrorfilme können inhaltlich u.a. dadurch charakterisiert werden, dass ein Einbruch des Nicht-Rationalen in die Alltagswelt stattfindet. Hierin unterscheiden sie sich von Filmen aus verwandten Genres wie beispielsweise aus dem Bereich Fantasy und Science Fiction. Der Rahmen, in dem die Geschichten angesiedelt sind, besitzt eine größere Alltagsnähe. In der darin entworfenen Welt gelten im allgemeinen auch die herkömmlich bekannten Naturgesetze.

In verschiedenen Produktanalysen (Reß 1990, Reß 1987; Baumann 1989) wurden plausible Gründe für die besondere Affinität vieler Jugendlicher zum Genre "Horror" aufgedeckt. Z. B. spiegeln sich in solchen Filmen notwendige Entwicklungsaufgaben junger Menschen wider. Dies zeigt sich unter anderem in charakteristischen Elementen, die in unterschiedlichen Kombinationen in den analysierten Filmen vorgefunden wurden. So spielen die Themen Sexualität, Tod und Gewalt eine große Rolle, wobei der Figur des Halb- oder Doppelwesens besondere Beachtung zu schenken ist. In einer solchen Figur ist ein Zustand des "Noch nicht" und des "Nicht mehr" symbolisiert (z. B. Geist, Zombie o.ä.: nicht mehr lebendig, noch nicht richtig tot). Das Jugendalter kann als eine Lebensspanne verstanden werden, die gerade durch einen solchen Zustand des "noch nicht – nicht mehr" charakterisiert ist (noch nicht Erwachsener, nicht mehr Kind). Als weitere Charakteristika sind zu nennen: Ein pessimistisches Gesellschaftsbild wird entworfen, in dem die staatlichen Organe ebenso wie die Kirche versagen und die Institution "Familie" häufig in einem desolaten Zustand gezeigt wird. Die Jugendlichen selbst werden von den Erwachsenen nicht akzeptiert und gefördert; es besteht ein Verhältnis der Konfrontation zwischen den Generationen. Neben solchen manifesten Inhalten lassen sich auch latente Botschaften in Horrorfilmen ausmachen. Sie betreffen nach den Ergebnissen der Analyse von Reß (1990) 1. die Gespaltenheit der menschlichen Existenz, die den Wunsch nach Klarheit, Einheit und Ganzheit enttäuscht, 2. das Entwicklungsprinzip "Stirb und Werde", welches die Metamorphose vom Kind zum Erwachsenen beherrscht, und 3. die Wiederkehr des Verdrängten. Beim leichten Kratzen an der schönen und glatten Oberfläche kommen die triebhaften und animalischen Aspekte der menschlichen Existenz ungebändigt zum Vorschein.

Während im Bereich der Produktanalysen schon einige Forschung geleistet worden ist, beschränkten sich die Forschungsbemühungen bezüglich der Rezipientenseite vor allem auf soziologische Fragestellungen, z. B. zum Fan-Verhalten (z. B. Winter 1993; Winter 1995; Eckert, Vogelgesang, Wetzstein, & Winter 1991; Vogelgesang 1991; Wagner-Winterhager 1984; Raschke 1996).

Zur systematischen Erhebung individueller Rezeptionsmuster, in denen Zuschauer solche Filme wahrnehmen, bestand noch Untersuchungsbedarf. Die oben beschriebenen Charakteristika mit ihrem Bezug zu entwicklungspsychologischen Themen soll keineswegs zum Schluss verleiten, dass die meisten oder gar alle Jugendlichen eine Präferenz für dieses Filmgenre zeigen. Welche Art von Filmen bevorzugt und in welcher Art sie rezipiert werden, hängt von der thematischen Voreingenommenheit (Charlton & Neumann-Braun 1992) ab, die aus aktuellen und teilweise entwicklungsbedingten Lebensthemen, "Daseinsthemen" (Thomae, 1988) und mittelfristige oder überdauernde Aktualität genießende "Themata" (Noam, 1988 & 1993) bzw. Identitätsthemen (Holland, 1975) resultiert. Sie führt zu einer erwartungsgesteuerten Auswahl an Filmen wie auch zu einer individuellen Rezeptionsstrategie. Neben den entwicklungsbedingten Merkmalen stellen also auch individuelle motivationale Strukturen ein wichtiges Moment für die Herausbildung von Genrepräferenzen dar.

 

2. Problemstellung

 

Ziel dieser explorativen Studie war es, zu überprüfen, ob individuelle Strategien des Umgangs mit medial vermittelten "okkulten" Filmdarstellungen nachgewiesen werden können. Das Ausmaß der Orientierung an den nicht-rationalen bzw. okkulten Aspekten eines Films, also an narrativen Strukturen, in denen sich Brüche in der Alltagsrationalität auftun, bildete dabei ein wichtiges Element. Die allgemeine Annahme, dass es nachweisbare Unterschiede in der Rezeption okkulter Inhalte gibt, führt zur Suche nach den Einflußfaktoren, die entwicklungsabhängiger, persönlichkeitspsychologischer oder situativer Natur sein können. Weiterhin sollte überprüft werden, welche motivationalen Strukturen die Gruppe derjeniger Jugendlicher, die die Filmgattung Horror/Grusel präferieren, charakterisieren. Eine Annahme bestand darin, dass sich unter den Horrorfans überzufällig häufig solche Jugendliche finden lassen, die in besonderem Maß in (psychodynamische) Prozesse des Umbruchs involviert sind, d.h. die sich in einem wenig gefestigten Identitätszustand befinden, einem Zustand, der sich in Horrorfilmen in den charakteristischen Grenzauflösungen mittels übersinnlicher/nicht-rationaler/okkulter Inhalte widerspiegelt. Damit zusammenhängend stand die Annahme, dass sich Horrorfans bei der Filmrezeption in besonderem Ausmaß an den nicht-rationalen Filminhalten orientieren. Abbildung 1 bietet eine schematische Orientierung zur Problemstellung der Untersuchung.



 

 

Die thematische Voreingenommenheit wird durch entwicklungsbedingte Faktoren (Identitätsstatus, entwicklungsbedingte aktuelle Lebensthemen) und personenbedingte Faktoren (überdauernde Persönlichkeitsmerkmale, auf spezifischen persönlichen Erfahrungen beruhende aktuelle Lebensthemen) geprägt. Bestimmende Elemente, die für die vorliegende Fragestellung besonders interessant sind, sind einerseits das Interesse an okkulten bzw. nicht-rationalen Inhalten, andererseits das Interesse an anderen für das Filmgenre Horror charakteristischen Themen wie z. B. Aggressivität/Gewalt und Sexualität. Die thematische Voreingenommenheit führt nicht in allen Fällen zu einer Präferenz dieses Filmgenres: nicht alle Jugendlichen, die eine entwicklungsbedingte Resonanz für genretypische Themen (wie z. B. Interesse an Okkultem) haben, werden zu Horrorfans.

 

3. Hypothesen

 

Auf der Basis dieser Überlegungen und der Ergebnisse bisheriger Forschung wurden fünf Hypothesen gebildet.

Unabhängig von der Genrepräferenz kann man von einem besonderen Verhältnis der Jugendlichen zum Nicht-Rationalen sprechen, wie es die Untersuchungen zum Jugendokkultismus zeigen. Im Hinblick auf diesen entwicklungsabhängigen Aspekt läßt sich folgende Hypothese ableiten:

Es besteht ein signifikanter Zusammenhang zwischen dem Ausmaß der Orientierung an nicht-rationalen Filminhalten und dem Stand der Identitätsentwicklung.

 

Die bisherigen Ergebnisse der Medienrezeptionsforschung lassen vermuten, dass im Sinne der thematischen Voreingenommenheit ein ausgeprägtes Interesse an Okkultem, wie es sich in Okkultpraktiken und -beliefs manifestiert, die individuelle Rezeptionsstrategie entsprechend modifiziert:

 

Es besteht ein signifikanter Zusammenhang zwischen Okkultpraktiken und Okkultbeliefs und dem Ausmaß der Orientierung an nicht-rationalen Filminhalten.

 

Weiterhin läßt sich eine Entwicklungsabhängigkeit bei der Präferenz von Horrorfilmen vermuten:

Es besteht ein signifikanter Zusammenhang zwischen der Präferenz des Genres "Horror" und dem Stand der Identitätsentwicklung.

Eine Differenzierung richtet sich auf die Annahme, dass Horrorfilme mit ihren charakteristischen Merkmalen, den Wandlungen und Grenzauflösungen, besonders attraktiv für Jugendliche sind, die sich hinsichtlich ihres Identitätszustands in einer Phase des Umbruchs bzw. der (Neu-) Orientierung befinden. Die daraus abgeleitete Hypothese lautet:

Es besteht ein signifikanter Zusammenhang zwischen der Präferenz des Genres "Horror" und dem Identitätszustand des Moratoriums (s.u.).

Da Filme des Genres "Horror" inhaltlich insbesondere durch den Einbruch des Nicht-Rationalen in die Alltagswelt charakterisiert sind, wird vermutet, dass Horrorfans besonders von diesen Aspekten fasziniert sind. Die aus diesen Überlegungen abgeleitete Hypothese lautet:

Horrorfans orientieren sich in besonderem Maße an nicht-rationalen Inhalten von Horrorfilmen.

Diese auf eine quantitative Auswertung hin orientierten Hypothesen zielen auf Gruppenvergleiche (z. B. Jugendliche Horrorfans vs. andere jugendliche Mediennutzer) und erfassen nur einzelne Elemente, aus denen individuelle Rezeptionsstrategien geprägt sein könnten. Im Hinblick auf die Arbeiten von Thomae 1988, Noam 1993 & 1988 und vor allem Holland 1975 wurden individuelle Rezeptionsmuster bei den Rezipienten vermutet, die sich sinnvoll den Strategien im Rahmen von Lebensbewältigungsprozessen, den "Themata" bzw. dem "Identity Theme" zuordnen lassen (siehe dazu Mayer 2000). Zum Nachweis individueller motivationaler Strukturen und daraus resultierender persönlicher Perspektiven auf den Film ist ein qualitativer Zugang zur Datenanalyse notwendig. In einem zweiten Teil der Untersuchung wurden die mit dem reichhaltigen Instrumentarium gewonnenen Informationen zur thematischen Voreingenommenheit und zur Filmverarbeitung bei sieben ausgewählten Einzelfällen umfänglich ausgeschöpft und detailliert ausgewertet.

 

4. Methode

4.1. Vorgehen

Um der spezifischen Fragestellung gerecht zu werden, nämlich individuelle Rezeptionsstrategien zu erfassen und die Daten sowohl quantitativ als auch qualitativ auszuwerten, wurde ein aufwendiges Untersuchungsdesign entwickelt. Den Teilnehmerinnen und Teilnehmern wurde per Post ein Fragebogen zugesandt, den sie dann jeweils ausgefüllt zum Untersuchungstermin mitzubringen hatten. Die Einzelsitzungen bestand aus drei Teilen: Zu Beginn wurden vier Tafeln eines projektiven Tests vorgelegt (TAT, s.u.) Danach folgte die Darbietung eines Teiles von einem Horrorfilm und entsprechenden Fragen zum Film. Abgeschlossen wurde mit einem Interviewteil, mit dem der "Identitätsstatus" des Probanden bezüglich verschiedener Lebens- bzw. Erfahrungsbereiche festgestellt wurde (s.u.).

Die Stichprobe umfasste fünfzig Jugendlichen und jungen Erwachsenen (Altersdurchschnitt: 17,2 J.; Range: 15 – 22 J.). 2)  Bei dem gezeigten Filmmaterial handelte es sich um einen ca. 60 minütigen Ausschnitts des Films "Nightmare - Mörderische Träume" (Wes Craven, USA 1984). In diesem Film spielt die Vermischung der Sphäre des alltäglichen Geschehens mit der nicht-rationalen Sphäre des (Alp-)Traums eine zentrale Rolle. Die Darbietung wurde an mehreren Stellen unterbrochen, um die Probanden mithilfe eines Interviewleitfadens zum gerade Gesehenen zu befragen. 3) Dieses an die "Stopp-Technik" von Hawkins et al. (Hawkins, Pingree, & Fitzpatrick 1991) angelehnte Vorgehen bot die Möglichkeit, die durch den Film ausgelösten Eindrücke und Kognitionen zeitlich sehr nahe und unvermittelt zu erheben (vgl. Charlton, Borcsa, Mayer, Haaf, & Kleis 1996). Die kognitive und emotionale Distanz, die bei einem Interview im Anschluss an die Filmdarbietung oder bei einer nachträglichen Gabe eines Fragebogens zu Rezeption von Filminhalten und den begleitenden Empfindungen entstünde, wurde damit vermieden und die Wahrscheinlichkeit, dass aufgrund der zeitlichen Distanz die eigentlichen Vorgänge bei der Rezeption durch vorgefaßte und rational gefundene Meinungen überlagert werden, wurde verringert.

4.2. Operationalisierung der individuellen Rezeptionsstrategie (Filmverarbeitung)

Die individuelle Rezeptionsstrategie wurde mittels der Dimensionen "Orientierung an nicht-rationalen Filminhalten", "Perspektivität", "Reflexivität" und "Involvement" erfaßt. 4) Außerdem wurden Fragen zu speziellen Filminhalten und allgemeine Fragen zur Rezeption gestellt.

4.2.1. Orientierung an nicht-rationalen Filminhalten

Für die vorliegende Fragestellung war vor allem das Ausmaß der Orientierung an "okkulten" bzw. nicht-rationalen Filminhalten interessant, d.h. die Frage, wie sehr das Augenmerk des Betrachters auf denjenigen Aspekten der narrativen Fiktion ruht, die die Brüche der Alltagsrationalität betreffen. Solche Inhalte, die paranormales Geschehen betreffen, stellen ein wichtiges Charakteristikum von Horrorfilmen dar. Risse im Alltäglichen tun sich, um es an einem Beispiel zu verdeutlichen, auf, wenn Alpträume plötzlich Realität werden, wenn ein Toter als Wiedergänger rachelüstern in das Alltagsgeschehen eingreift und dabei keine Rücksicht auf die gängigen Naturgesetze nimmt, wie es bei dem in dieser Untersuchung dargebotenen Filmmaterial der Fall ist. Die Filmunterbrechungen waren so plaziert, dass die Probanden in den Antworten direkt auf okkulte bzw. nicht-rationale Filminhalte Bezug nehmen konnten, wenn es ihnen ein Bedürfnis war. Ein Beispiel soll die beiden Antwortrichtungen verdeutlichen: In einer Filmszene klettert ein Jugendlicher namens Glen nachts am Rosenspalier des Hauses hoch und steigt durch das Fenster in das Zimmer seiner Freundin Nancy ein. Am Ende des darauf folgenden Dialogs, in dem es unter anderem um die Erfahrungen mit Wahrträumen geht, bittet Nancy Glen, an ihrer Seite zu wachen und auf sie aufzupassen, damit sie in einer Art von luzidem Traum das "Monster" Freddie Krüger aufsuchen kann und bei Gefahr durch ihn geweckt würde. Sie weiht ihn aber nicht explizit in ihr Vorhaben ein, sondern appelliert nur an ihn: "Aber schlaf bloß nicht ein!". Glen bemüht sich, ihr Anliegen zu missverstehen, und antwortet: "Was denkst denn du von mir?!" Sie darauf hin: "Du irrst dich, jetzt kommt nicht, was du denkst!" Nach diesem Satz wurde der Film gestoppt und nach der ersten offenen Frage ("Was geht dir jetzt gerade durch den Kopf?") weiter gefragt: "Wieso hat Glen Nancy besucht? Was will er von ihr?" Die Szene selbst hat in ihrer thematischen Valenz einen direkten Bezug zur Sexualität (Motiv des "Fensterlns"). Lautete die Antwort nun z. B. "Er will mit ihr schlafen", so wurde dies als "alltagsrationale Orientierung" eingestuft. Lautete sie hingegen: "Er will auch nicht einschlafen und sie beschützen", so zeigt diese Antwort eine klare Orientierung an den nicht-rationalen Elementen des Plots.

4.2.2. Perspektivität

Mit "Perspektivität" ist die Blickrichtung gemeint, mit der das Rezipierte wahrgenommen wird. Unabhängig vom Grad der kognitiven oder emotionalen Distanz kann das Augenmerk des Betrachters mehr auf der dargestellten Welt der narrativen Fiktion oder auf den Bezügen, die diese zur eigenen Lebenswelt, zu eigenen Erfahrungen und Befindlichkeiten haben, ruhen. Im ersten Fall würde man von stärkerem Objektbezug, im zweiten von stärkerem Selbstbezug sprechen, unter dem der Rezeptionsvorgang stattfindet. Lautete beispielsweise eine Antwort auf die offene Frage "Was geht dir gerade durch den Kopf?", die jeweils als erste Frage nach den Filmstopps gegeben wurde: "Ob sie wirklich träumt", dann wurde sie als objektbezogen eingestuft. Lautete sie: "Ich stell mir vor, dass ich sie wäre – ich wäre da nie rausgegangen", dann lag eindeutig ein starker Selbstbezug vor.

4.2.3. Reflexivität

Die Dimension "Reflexivität" beschreibt den Grad der kognitiven Distanz, der hinsichtlich eines Medieninhalts vorherrscht. Schon während der Rezeption kann ein Nachdenken über die narrativen Inhalte stattfinden, z. B. ein Erwägen verschiedener Möglichkeiten des Fortgangs, des Befindens oder der Motive der Protagonisten. Eine solche reflexive Haltung gegenüber dem Dargebotenen kann sowohl objekt- wie auch selbstbezogen sein, d.h. sie kann sich allein auf ein "Bespiegeln" der narrative Fiktion beschränken oder aber Bezüge zur eigenen Lebenswelt und zum eigenen Empfinden herstellen. Eine Antwort auf die offene Frage "Was geht dir gerade durch den Kopf?", die lautete "Ich habe die Nancy schon ertrinken gesehen", wurde als wenig reflektierend eingestuft, hingegen: "Nancy ist reichlich dumm, sie riskiert ihr Leben" als stark reflektierend.

4.2.4. Involvement

Das Involvement ist ebenfalls ein Maß der Distanz, bei dem es um den Grad der inneren Beteiligung am narrativen Geschehen geht. Sie kann hoch sein, und der Rezipient fühlt sich von der Geschichte ergriffen; er läßt sich von den Inhalten affizieren und zeigt eine große Resonanz für sie. Auf der anderen Seite kann er, obwohl er die Rezeption nicht unterbricht, nur oberflächlich berührt sein. Er hält gemütsmäßige Distanz, findet z. B. den Film nicht besonders interessant, ohne dass man dadurch schon Rückschlüsse auf die anderen Aspekte der Filmverarbeitung schließen könnte. Das Ausmaß der Ergriffenheit oder inneren Beteiligung am Film sagt nichts darüber aus, ob ein Rezipient die Inhalte eher selbst- oder objektbezogen, eher wenig oder stark reflektierend wahrnimmt.

Eine wenig distanzierte Antwort auf übliche offene Frage lautete beispielsweise: "Ich hoffe, dass sie es beweisen kann, aber ich glaube es nicht, wie sollte sie auch!". In dem Ausdruck "Ich hoffe" schlägt sich die innere Beteiligung deutlich nieder. Von einer starken gemütsmäßigen Distanz, also geringem Involvement zeugt eine Antwort wie: "Der Film ist etwas langweilig geworden".

 

Weitere Hinweise auf die individuelle Rezeptionsstrategie wurden aus den Antworten auf Fragen zu speziellen Filminhalten und auf allgemeine Fragen zur Rezeption gewonnen, die im Anschluss an die Filmdarbietung gestellt worden waren. Die Fragen zu speziellen Filminhalten betrafen die religiöse Thematik im Film, die Themen Sexualität, Selbstjustiz, Einstellung zu Autoritätspersonen. Außerdem konnten aus den Antworten Rückschlüsse über das Gesellschaftsbild und über die Einstellung zu okkulten Themen gewonnen werden. Die allgemeinen Fragen zur Rezeption betrafen die Kenntnis und Bewertung des Gesehenen, etwa ob der Film gefallen habe, welche Szenen am meisten beeindruckt hätten und welche Rolle im Film die Probanden präferiert hätten, wenn sie Schauspieler wären.

4.3. Operationalisierung der thematischen Voreingenommenheit

 

Die thematische Voreingenommenheit hängt von sechs konstituierenden Faktoren ab, wie es in der folgenden Abbildung dargestellt ist:

 

Abbildung 2: Konstituierende Faktoren der Thematischen Voreingenommenheit

4.3.1. Aktuelle Lebensthemen

Aktuell relevante Lebensthemen haben Einfluß auf die Art und Weise, wie Filminhalte rezipiert werden. Eine frisch verliebte Person wird z. B. Inhalte eines romantischen Liebesfilms anders wahrnehmen als jemand, der sich gerade in Unfrieden von seinem Partner/ seiner Partnerin getrennt hat. Um einen Überblick darüber zu gewinnen, welche allgemeinen Themenbereiche momentan von besonderer Wichtigkeit für die Probanden sind, wurde eine zu diesem Zweck erstellte Liste von 20 Themen (z. B. "Liebe", "Zukunft", "Sterben/Tod", "Hobbys") als Teil eines Fragebogens vorgegeben, denen jeweils eine 4-stufige Rating-Skala zugeordnet war. Darauf sollten die Probanden angeben, wie stark sie das genannte Thema bzw. der genannte Bereich z.Zt. beschäftigt. In einem weiteren Teil ging es um diejenigen Ereignisse, die im bisherigen Leben des Probanden am schwersten zu ertragen oder zu bewältigen waren. Es wurde eine Liste von zwölf kritischen Lebensereignissen (z. B. "Schwere Krankheit", "Scheidung der Eltern", "Enttäuschte Liebe") gegeben, die sich an den Ergebnissen der Studien von Hurme 1981 und Filipp 1995 orientierte. Diese Liste sollte den Vpn. als Anhaltspunkt dienen. Die individuell zutreffenden und auch selbst formulierten krisenhaften Ereignisse wurden in der Rangfolge ihrer empfundenen Schwere in sechs Leerzeilen geschrieben.

4.3.2. Überdauernde Persönlichkeitsmerkmale

Ein weiterer Bestandteil des den Probanden vor der eigentlichen Sitzung zugesandten Fragebogens waren vier Skalen der revidierten Fassung des Freiburger Persönlichkeitsinventars (Fahrenberg, Hampel, & Selg 1984). "Aggressivität", "Soziale Orientierung", "Extraversion" und "Emotionalität" sind Konstrukte des FPI-R, die aus inhaltlichen Gründen für die Fragestellung interessant waren. Sie berühren einerseits wichtige Elemente im Zusammenhang mit der Adoleszenz als Übergangsphase (intensiven aufsteigende Triebimpulse verknüpft mit starken emotionalen Mustern), aber auch die Charakteristika von Horrorfilmen (Gewalthaltigkeit, Aggressivität, Ansprechen starker Emotionen, Rezeption von Horrorfilmen als sozialem Geschehen), zum anderen erwies sich die Skala "Emotionalität" in der Studie zum Jugendokkultismus von Mischo (1991) als einflußreicher Prädiktor für die psychischen Gefährdung Jugendlicher durch Okkultpraktiken.

Ein weiteres Charakteristikum von Horrorfilmen besteht im pessimistischen Gesellschaftsbild, welches in der Regel vermittelt wird. Zur Erfassung des personalen und sozialen Optimismus wurden die entsprechenden Skalen des Fragebogen zu personalem und sozialem Optimismus (POSO) (Schweizer, Schneider & Beck-Seyffer 2001) eingesetzt.

4.3.3. Entwicklungsstand der Identität (Identitätsstatus)

Um Informationen über den aktuellen Entwicklungsstatus der Jugendlichen zu bekommen, wurde auf das Konzept des Entwicklungspsychologen Marcia zur Ermittlung des Identitätsstatus zurückgegriffen (Marcia, Waterman, Matteson et al. 1993). Marcia differenzierte die Phase Identität vs. Identitätsdiffusion von Eriksons Modell der psychosozialen Entwicklung (Erikson 1973) und unterscheidet vier verschiedene Identitätsstatus: der Status der diffusen Identität, der übernommenen Identität, des Moratoriums und der erarbeiteten Identität. Die vier Identitätsstatus können auf unterschiedliche Lebensbereiche bezogen werden. Sie sind charakterisiert durch ein unterschiedliches Ausmaß an Auseinandersetzung, erworbener Klarheit und Festigkeit hinsichtlich des eigenen Standpunkts. Die Identitätsstatus wurden mittels einer übersetzten Version des Identitätsstatusinterview ISI (Marcia & Archer 1993) für die Bereiche Politik, Religion und Sexualität erhoben. Ebenfalls erfaßt wurde der Intimitätsstatus (Orlofsky 1993a, 1993b), der Aussagen über die Qualität von Freundschafts- bzw. Liebesbeziehungen macht.

4.3.4. Genrebezogenes Vorwissen/ Erwartungen

Erwartungen und Vorwissen hinsichtlich eines Filmgenres beeinflussen die Rezeption von Filminhalten ebenfalls. Informationen darüber konnten mit Hilfe entsprechender Items im vorab gegebenen Fragebogen und im Interview, das im Anschluss an die Filmdarbietung geführt worden war, gewonnen werden. Auf der Basis dieser Daten konnte die Gruppe der "Horrorfans" von der der anderen Mediennutzer differenziert werden (Frage nach den präferierten Filmgenres bzw. nach der Häufigkeit des Horrorfilmkonsums).

4.3.5. Beliefs

Weiterhin bilden persönliche Glaubensvorstellungen ein konstituierendes Element der thematischen Voreingenommenheit. Dies betrifft in besonderem Maße Filme mit nicht-rationalen Inhalten. Glaubt ein Rezipient z. B. an die Existenz von Geistern, so wird das ggf. Einfluß haben auf die Art und Weise, wie er einen Film mit damit korrespondierenden Inhalten rezipiert und bewertet. Zur Erfassung okkulter Beliefs wurden die entsprechenden Items des Okkultismusfragebogens von Mischo übernommen (Mischo 1991).

4.3.6. Persönliche Erfahrungen und Wissen

Für persönliche Erfahrungen und das Wissen im Bereich okkulter Themen gilt das Gleiche wie für die Beliefs: Auch sie haben Einfluß auf die thematische Voreingenommenheit. Zur Erhebung dieser Daten fanden die diesbezüglichen Items des Okkultismusfragebogens von Mischo (1991) Anwendung.

Vor der Filmdarbietung wurden den Versuchsteilnehmern vier Bildtafeln eines projektiven Tests, des Thematischen Apperzeptionstest (TAT) vorgelegt (Murray 1943). Die Tafeln waren nach ihrer thematischen Valenz hin ausgewählt (3 BM: "Depressive Gefühlszustände", 8 BM: "Aggression", 11: "Auseinandersetzung mit existenzbedrohenden Gefahren", 13 MF: "Partnerschaft, Sexualität"). Die von den Probanden erzeugten Geschichten sollten ergänzende Informationen über individuelle Dispositionen der Probanden liefern. Beim TAT ist wie bei der Filmrezeption der optische Kanal der Hauptwahrnehmungskanal. Damit können individuelle Gestimmtheiten erfaßt werden, die im Filter der Versprachlichung hängenbleiben würden. Dass die elizierten Geschichten wieder von der Sprache als Medium getragen werden, tut dieser Tatsache keinen Abbruch.

4.4. Auswertung 5)

Die erhobenen Daten lagen in Fragebogenform sowie als auf Tonbandkassette aufgenommene Interviewdaten vor. Die verwendeten Fragebogenskalen wurden nach den gängigen Methoden ausgewertet. Die Audiodaten zur Filmrezeption wurden in knapper Form (Memos) mit den für die quantitative Auswertung relevanten Inhalten verschriftlicht und die Antworten zu den Filmfragen nach den vier Filmverarbeitungsdimensionen bzw. nach thematischen Schwerpunkten (z. B. sexuelle Thematik, religiöse Thematik, okkulte Einstellungen) eingestuft. Die Geschichten zu den TAT-Tafeln wurden u.a. danach beurteilt, ob sie jeweils deren thematische Valenz aufgreifen, wie der Ausgang der Geschichten gestaltet ist und ob sie von einer optimistischen oder pessimistischen Einstellung zur Welt geprägt sind. Die Interviewteile zur Bestimmung des Identitätsstatus wurden von zwei Ratern unabhängig nach den oben genannten differenzierenden Kriterien eingestuft.

 

5. Ergebnisse

Im Folgenden können nur die wichtigsten Ergebnisse der umfangreichen quantitativen Auswertung dargestellt werden.

Bei den Konstrukten "Perspektivität", "Reflexivität", "Involvement" und "Orientierung an nicht-rationalen Inhalten" (ONRI) handelt es sich um logisch gewonnene Dimensionen, die logisch unabhängig voneinander sind. Die Konstrukte erwiesen sich bezogen auf die Stichprobe auch empirisch als weitgehend unabhängig, so dass man also zurecht von Dimensionen sprechen kann. Es ließen sich mit einer Ausnahme keine signifikanten Interkorrelationen nachweisen. Ein schwach signifikante Korrelation besteht zwischen dem "Involvement" und der ONRI-Skala: diejenigen Teilnehmer und Teilnehmerinnen, deren Antworten sich eher auf nicht-rationale Filminhalte bezogen, zeigten höhere Werte auf der Skala "Involvement", d.h., sie ließen sich offenbar stärker von dem Gesehenen berühren. 6)

5.1. "Orientierung an nicht-rationalen Inhalten"

Die Filmverarbeitungsdimension "Orientierung an nicht-rationalen Inhalten" weist nach den Ergebnissen dieser Studie auf ein relativ überdauerndes, d.h. nicht vom Alter und Identitätsstatus abhängiges Merkmal hin. Man kann von einem spezifischen Verarbeitungsstil sprechen, der mit Persönlichkeitsmerkmalen wie emotionaler Labilität und einer pessimistischen Grundeinstellung hinsichtlich der persönlichen Entwicklung zusammenhängt. Neben diesen zwei Persönlichkeitsmerkmalen korrelierten die Ausprägung okkulter Belief-Systeme 7) und die Häufigkeit "okkulten" Praktizierens 8) positiv mit dieser Filmverarbeitungsdimension. Ebenfalls wurde von Jugendlichen, deren Antworten stark an den nicht-rationalen Aspekten des Filmplots orientiert waren, der Themenbereich "Sterben/Tod" überdurchschnittlich häufig als ein aktuell wichtiges Lebensthema genannt. 9) Man kann bei diesen Jugendlichen also von einer Art "Faszination an den dunklen Seiten der Welt bzw. des Lebens" sprechen. Sie experimentieren im Alltag häufiger mit den Grenzbereichen des naturgesetzlich Gegebenen, glauben eher an "Okkultes" und richten auch bei der Rezeption von Filmen ihr Augenmerk stärker auf paranormale Inhalte, auf die "Risse im Alltäglichen". Ein schwacher Zusammenhang ergab sich auch zur Variable "Geschlecht": die Teilnehmerinnen neigten stärker dazu, sich an nicht-rationalen Mustern bzw. Inhalten zu orientieren, während männliche Vpn. in ihren Antworten häufiger nüchtern und alltagsrational argumentierten. 10) Die folgende Tabelle zeigt die Korrelationen der ONRI-Skala mit den eingesetzten Persönlichkeitsskalen und mit den drei anderen Filmverarbeitungsdimensionen im Überblick:


Orientierung an nicht-rationalen Inhalten
Korrelationen zu Persönlichkeitsskalen, Filmverarbeitungsdimensionen, Alter und Geschlecht
Extraversion .076
Emotionalität
.301*
Soziale Orientierung
.276
Aggressivität
-.028
Sozialer Optimismus
-.140
Persönlicher Optimismus
-.359**
Perspektivität
.125
Reflexivität
.186
Involvement
.247
Alter  (Spearman Rang K.)
-.070
Geschlecht (Einfaktorielle ANOVA: F[1,48]) 2,933

 

* signifikant auf dem 5%-Nveau (zweiseitig)
** signifikant auf dem 1%-Niveau (zweiseitig)

 

 5.2. Horrorfans

Ein auffälliges Resultat besteht darin, dass keine signifikanten Zusammenhänge zwischen einer hohen Ausprägung in der Filmverarbeitungsdimension "Orientierung an nicht-rationalen Filminhalten" und der Bevorzugung von Horrorfilmen als Filmgenre nachgewiesen werden konnten, ebensowenig wie Horrorfans 11) generell eine Affinität zu den dunklen Seiten des Lebens zu haben scheinen. Wir finden also weder bedeutsame Korrelationen zur Okkult-Skala, noch zu "okkulten Verhaltensweisen" und den damit korrelierten Skalen "Emotionalität" und "Personaler Optimismus". Auch hinsichtlich der Angaben zu den aktuellen Lebensthemen zeigten sich keine diesbezüglichen Auffälligkeiten (Thema "Sterben/Tod"). Dies mutet paradox an: Auf der einen Seite beinhalten Horrorfilme in besonderem Maße entwicklungsrelevante Themen während der Adoleszenz und sind definitionsgemäß durch die Darstellung nicht-rationaler Inhalte charakterisiert, während andererseits die Orientierung an diesen Inhalten bei der Filmverarbeitung nichts oder wenig mit der Bevorzugung des Genres und mit der Häufigkeit der Rezeption solcher Filme zu tun hat. Horrorfans stellen also in ihrer Bezugnahme auf "okkulte" Filminhalte eine heterogene Gruppe dar.

Was charakterisiert nun die Gruppe dieser Fans innerhalb der Stichprobe? Die Vorliebe für das Genre Horror stellte sich als entwicklungsabhängig dar. Im Bereich "Politik" hatten diejenigen Probanden, die oft oder zumindest manchmal Horrorfilme sehen, und im Bereich "Sexualität" diejenigen, die oft Horrorfilme sehen, einen durchschnittlich höheren Identitätsstatus erreicht. 12) Das bedeutet, dass die Auseinandersetzung mit diesen Lebensbereichen hier weiter gediehen war und häufiger zu einer relativ klaren und beständigen Position, einer sogenannten "erarbeiteten Identität" geführt hatte. Das Entwicklungsstadium des "Moratoriums" war entgegen unserer Erwartungen jedoch nicht überzufällig häufig in der Gruppe der Horrorfilmrezipienten nachzuweisen. Horrorfans ließen sich nicht durch eine besondere Weltsicht im Sinne okkulter Beliefsysteme ausweisen. Hingegen spielten andere Themenbereiche, nämlich Aggressivität und Sexualität, eine offenkundig wichtigere Rolle: Teilnehmer und Teilnehmerinnen, die häufiger solche Filme anschauen, erreichen in der Fragebogenskala ein höheres Maß an Aggressivität. 13) Für das Thema Sexualität sind die Ergebnisse nicht ganz so eindeutig, d.h. die Zusammenhänge erreichen meistens nur das 10%-Signifkanzniveau, doch spricht die Gesamtheit der Befunde (Identitätsstatus, entsprechende Filmfragen, TAT-Geschichten) für dessen Bedeutung. 14)


Häufigkeit der Rezeption des Filmgenres "Horror"
Zusammenhänge zu Persönlichkeitsskalen und Filmverarbeitungsdimensionen (Einfaktorielle ANOVA)

F (1,48)
Extraversion
.159
Emotionalität
.548
Soziale Orientierung
1.900
Aggressivität
4.567*
Sozialer Optimismus
1.489
Persönlicher Optimismus
1.911
Perspektivität
.002
Reflexivität
.361
Involvement
.237
Orientierung an nicht-rationalen Inhalten
.420
Alter
2.063

* signifikant auf dem 5%-Niveau

Einige Ergebnisse der Auswertung der TAT-Geschichten, auf die hier aus Platzgründen nicht detailliert eingegangen werden kann, geben einen Hinweis darauf, dass bei den expliziten "Horrorspezialisten" möglicherweise eine striktere Trennung zwischen narrativer Fiktion und alltäglichem Geschehen stattfindet, weswegen sie sich leichter lustvoll auf Horrorfilme und damit den spielerischen Umgang mit Ängsten und dem Schrecken einlassen können. Hier bedarf es jedoch weiterer spezifischer Untersuchungen.

Zwei der fünf getesteten Hypothesen wurden durch die Ergebnisse gestützt, drei fanden keine Bestätigung. So hat sich die Filmverarbeitungsdimension ‚Orientierung an nicht-rationalen Inhalten‘ nicht, wie vermutet, als vom Alter und Identitätsstatus abhängig erwiesen, sondern es scheint sich um ein relativ überdauerndes Merkmal zu handeln. Man kann von einem spezifischen Verarbeitungsstil sprechen, der mit Persönlichkeitsmerkmalen wie emotionaler Labilität und einer pessimistischen personalen Grundeinstellung zusammenhängt. Die Hypothese, nach der ein signifikanter Zusammenhang zwischen dem Ausmaß der Orientierung an nicht-rationalen Filminhalten und Okkultpraktiken bzw. okkulten Beliefs besteht, konnte hingegen bestätigt werden. In einer knappen Darstellung lassen sich folgende Charakteristika zur Filmverarbeitungsdimension ‚Orientierung an nicht-rationalen Filminhalten‘ auflisten: Jugendliche, die

orientieren sich stark an nicht-rationalen Filminhalten.

Die Annahme, dass eine Präferenz des Genres ‚Horror‘ mit einer besonders ausgeprägten Orientierung an nicht-rationalen Filminhalten einher ginge, ließ sich nicht bestätigen. Der Einbruch des Nicht-Rationalen als ein konstituierendes Element für dieses Genre scheint also kein durchgängiges Motiv für die häufige Zuwendung zu solchen Filmen darzustellen. 15) Zumindest schlägt es sich nicht in der Art der individuellen Filmverarbeitung nieder. Horrorfans weisen nach den Ergebnissen dieser Studie tendenziell folgende Merkmale auf:

 

Die Hypothese, dass ein signifikanter Zusammenhang zwischen der Präferenz des Genres "Horror" und dem Stand der Identitätsentwicklung besteht, wurde durch die Untersuchungsergebnisse für einige Bereiche bestätigt. In den Bereichen ‚Politik‘ und ‚Sexualität‘ hatten die "Horrorfans" einen durchschnittlich höheren Identitätsstatus erreicht. Damit wurde jedoch die Hypothese widerlegt, dass Horrorfilme besonders attraktiv für Jugendliche seien, die sich hinsichtlich ihres Identitätszustands in einer Phase des Umbruchs oder der Neuorientierung, also eines Moratoriums befänden.

 

6. Einzelfalldarstellungen

 

Mittels der qualitativen Auswertung von sieben Einzelfällen konnte das in der quantitativen Auswertung in groben Konturen entstandene Bild ausdifferenziert und ein tieferes Verständnis für die individuellen Rezeptionsstrategien gewonnen werden. Jeder dieser Jugendlichen hatte ein ganz speziellen Zugang zum Film, der zu seinen aktuellen Themen bzw. seiner Lebensthematik "passt". Als exemplarische Beispiele sollen einige Aspekte zweier Fälle, "Jens" und "Marlis" genannt, skizziert und vergleichend gegeneinander gestellt werden.

Jens wurde für die Einzelfalldarstellungen ausgewählt, weil er den höchsten Konsum an Horrorfilmen in der Stichprobe vorweist. Man kann ihn als einen echten Horrorfilmspezialisten bezeichnen, der beispielsweise die Mühe auf sich nimmt, über Spezialversandadressen an ungeschnittene, nicht synchronisierte Originalversionen von für ihn wichtigen Werken zu kommen. Marlis schaut normalerweise keine Horrorfilme. Sie zeichnete sich bei der Filmrezeption jedoch durch eine sehr starke "Orientierung an nicht-rationalen Inhalten" aus. Jens und Marlis gehören beide zur Gruppe der ältesten Probanden in der Stichprobe. Beide weisen einen insgesamt hohen Identitätsstatus auf, und ihnen beiden hat der dargebotene Filmausschnitt gefallen.

Jens ist aus seiner Heimatstadt in den neuen Bundesländern weggezogen aufgrund von Schwierigkeiten, die aus seiner Vergangenheit als aktiver rechtsradikaler Jugendlicher resultierten. Er glaubt nicht an paranormale oder okkulte Ereignisse, hat nie an "Okkultpraktiken" teilgenommen und bezeichnet sich als religionslos. In den Fragen zur Filmverarbeitung geht er kaum auf die nicht-rationalen Filminhalte ein. Sie scheinen ihn nicht sonderlich zu beschäftigen. Hingegen treffen Gewaltdarstellungen und das Element des Kampfes auf ein besonderes Interesse bei ihm. Auf die Frage, welche Filmrolle er als Schauspieler am liebsten gespielt hätte, nannte er die der jugendlichen Nancy als Gegnerin des Monsters Freddy Krüger, wobei er sich zum Grund für diese Wahl so äußerte: "... s‘Kräftemessen einfach, wer’s halt besser rauskriegt. Nicht weil sie ihn überlebt, sondern einfach nur um zu sehen, wer halt besser ist".

Auch Marlis hätte die Rolle der Nancy präferiert, doch bei ihr waren die Gründe anders. In Nancy sieht Marlis gewissermaßen eine Leidensgefährtin, die durch Phasen der Verzweiflung, Trauer, der Angst und des Missverstandenwerdens hindurch muss und schließlich doch mit der Situation klarkommt. Auch Marlis befindet sich in einer Lebensphase, die sie als sehr schwierig empfindet. Sie ist arbeitslos, lebt noch bei ihren Eltern und leidet auch an ihrer körperlichen Entwicklung. Marlis ist mit esoterischen Belief-Systemen gut vertraut. Sie hat selbst schon Erfahrungen gemacht, die sie als paranormal interpretiert. Auch in verschiedenen Okkultpraktiken ist sie bewandert, wobei es sich wohl vor allem um mantische Techniken und magische Rituale handelt. "Weiße Magie" betreibt sie mehrmals im Monat.

Der vergleichende Blick zeigt folgendes: Bei Jens, dem Horrorspezialisten, spielt das Interesse an nicht-rationalen Inhalten eine untergeordnete Rolle, obwohl der "Einbruch des Nicht-Rationalen" in die Alltagswelt ein charakterisierendes Kriterium für das Genre "Horror" darstellt. Bei Marlis hingegen ist das Ausmaß der Orientierung an solchen nicht-rationalen Filminhalten, konsistent mit ihrem Belief-System, bei der Filmverarbeitung groß, und dennoch ist sie kein Fan jenes Genres. Man kann also sagen: Weder der explizite Horrorfan noch die "Esoterikerin" suchen vordergründig nach nicht-rationalen Inhalten in Spielfilmen. Im einen Fall steht offenbar die Anziehungskraft anderer Elemente (Gewaltdarstellungen, emotionaler Kick) im Vordergrund, während für die okkultpraktizierende "Esoterikerin" Spielfilme nicht das geeignete Medium für die Auseinandersetzung mit dem Nicht-Rationalen darstellen. Der vorgestellte Film war hierfür zu unrealistisch, und die Lektüre von Büchern, das Gespräch mit Freundinnen und die Rezeption von filmischen (Pseudo-) Dokumentationen scheinen im Hinblick auf eigenes magisches Handeln und Partizipieren (als Coping-Mechanismus) interessanter und fruchtbarer als narrative Fiktionen. Dass Marlis der Film dennoch gefallen konnte, lag an den hohen Identifikationsmöglichkeiten, die ihr die Figur der Nancy bot.

 

7. Grundformen des Umgangs mit okkulten Darstellungen in Filmen

 

Die individuelle Rezeptionsstrategie scheint also stark von Belief-Systemen und insgesamt von der thematischen Voreingenommenheit geprägt zu sein, wie die Ergebnisse dieser Untersuchung nahelegen. Dabei hat der Grad des empfundenen Realismus der fiktionalen Geschichte für manche Rezipienten einen starken Einfluß auf die Art der Filmverarbeitung, während er für andere eine geringe Rolle spielt. Wie solche Faktoren zu Unterschieden in der Filmrezeption und -bewertung führen können, soll in folgenden modellhaft angelegten vier Grundformen des Umgangs mit okkulten Darstellungen in Filmen gezeigt werden, die sich induktiv aus den Daten vor allem der sieben Einzelfallanalysen ergaben.  16)

a) Die kognitiven Dissonanzen zwischen dem eigenen und dem in der Filmlogik vertretenen Belief-System werden als zu unangenehm, die Differenzen als zu groß empfunden, als dass ein Vergnügen an der Rezeption aufkommen könnte. Der Rezipient vermisst die Übertragbarkeit auf die eigene Lebenssituation; Bedürfnisse, die an den Film herangetragen werden, werden nicht erfüllt. Distanzierung und eine negative Bewertung sind die Folge. Man hält das Ganze für Blödsinn.

b) Die kognitiven Dissonanzen in der Weltdeutung sind zwar groß, doch dieser Aspekt hat kein erhebliches Gewicht. Andere Elemente des Films finden größeres Interesse. Der Film wird nach seinen rational nachvollziehbaren Anteilen interpretiert, und die nicht-rationalen Muster werden mehr oder weniger nicht beachtet. Der konstruktive Aspekt der Rezeption von Fiktionen kann hier besonders in den Vordergrund treten, die Vorlage wird nach den eigenen Bedürfnissen "zurechtgeschnitten".

c) Der Rezipient trennt deutlich die Bereiche Fiktion und Realität. Dies vereinfacht den Umgang mit Geschichten bzw. Filmen aus dem Bereich der Phantastik. Trotz Widersprüchen der filmimmanenten Logik zum eigenen Belief-System ist deren Nachvollzug leicht möglich. Der Rezipient erträgt oder genießt die kognitive Dissonanz. Das spielerische Sich-Einlassen auf die Fiktion wird als lustvoll und phantasieanregend empfunden.

Zwei Varianten sind möglich: In der ersten steht die Auseinandersetzung mit dem Phantastischen im Vordergrund, wobei die Motive vom reinem Unterhaltungsbedürfnis über das stellvertretende Erproben alternativer Denk- und Erlebensweisen bis zu eskapistischen Tendenzen reichen können. In der zweiten Variante werden die dargestellten Inhalte allegorisch, im Sinne eines Märchens, verstanden und im Hinblick auf ihre symbolische Bedeutung und Struktur rezipiert. Bei diesen zwei Formen kann die Geschichte als Projektionsfläche für eigene Selbstentwürfe und -phantasien dienen. In dieser Hinsicht sind die Voraussetzungen für ein Gefallen an der Fiktion gegeben. Ob tatsächlich eine positive Bewertung stattfindet, hängt von weiteren Faktoren ab.

d) Das eigene Belief-System umfaßt ebenfalls nicht-rationale Elemente, und es handelt sich eher um graduelle Unterschiede, die zur filmimmanenten Logik bestehen. So entsteht zwar eine kognitive Dissonanz, doch ist sie nicht sehr groß. Der Extremfall bestünde darin, dass das eigene Belief-System mit dem im Film vertretenen übereinstimmt. Die Bandbreite unterschiedlicher Formen der Passung ist allerdings groß. Mit zunehmender Annäherung werden die Freiheitsgrade des Umgangs mit der Vorlage geringer, da es schwerer fällt, sich auf den fiktionalen Charakter der Geschichte einzulassen. Einzelne Details gewinnen quasi als Beweisstücke für das Belief-System an Bedeutung. Die Art, wie die Protagonisten des Films mit den Problemen umgehen, die bei diesem Genre vorzugsweise in nicht-rationalen Ursachen gründen, kann modellhaft wahrgenommen und bei genügender Übereinstimmung als positiv empfunden werden, oder im anderen Fall Beunruhigung und Irritationen hervorrufen, die den Genuß am Film einschränken.

Mit dieser Typologie der Rezeptionsformen nicht-rationaler Filminhalte wird nichts über die Herausbildung von Genrepräferenzen ausgesagt. Genrepräferenzen resultieren aus komplexen motivationalen Strukturen, und die Ausprägung des okkulten Belief-Systems stellt nur ein – und nicht unbedingt ein dominantes – Kriterium dar.

Wurde in der Typologie vor allem auf die direkt geäußerten und manifesten Muster rekurriert, so soll abschließend auf unbewußte Motive und latente Bedürfnisstrukturen hingewiesen werden, die eine wichtige Rolle spielen können. Mit solchen Erklärungsmodellen werden Ambivalenzen und Inkonsistenzen in den Äußerungen mancher Probanden verständlicher.

Ein Versuchsteilnehmer lehnte beispielsweise den Film ab, obwohl sein Involvement hoch und sein Urteil über den Film merkwürdig gebrochen war. Man gewann den Eindruck, als sei er stark damit beschäftigt, rationale Begründungen für seine emotionalen Empfindungen (Faszination?) zu finden, die mit seinem Selbstbild und seinem ideologischen Anspruch vereinbar sind. Bei einem anderen Jugendlichen, der aus eskapistischen Motiven oft in die Phantasiewelten von sog. Rollenspielen "reist" und die Auseinandersetzung mit vielen alterstypischen Problemen und Verhaltensweisen meidet, spiegelten die Äußerungen zur Filmrollenpräferenz (der Bösewicht Freddy) und zu den beeindruckendsten Filmszenen (Ekelszene mit Würmern) vermutlich latente Bedürfnisse wider, die kaum zu den anderen Äußerungen und zu den Fragebogendaten passen. Hinter seinem Harmoniebedürfnis und der Angst vor dem "Herantreten" (= aggredi) an die Welt, vor dem In-Angriff-Nehmen der anstehenden Entwicklungsaufgaben – hinter seiner Aggressionsvermeidung also besteht offenbar der von ihm im Hinblick auf die Filmrolle geäußerte Wunsch, auch mal "der Böse (zu) sein und (sich) ziemlich alles erlauben" zu können. Solche latenten Motive entziehen sich aber weitgehend der angewendeten Forschungsmethode.

 

8. Diskussion

 

Die Ergebnisse der Untersuchung weisen erneut auf die Bedeutung der thematischen Voreingenommenheit für die Rezeption von Medieninhalten hin. Individuelle Bedürfnisse, Vorerfahrungen und Erwartungen beeinflussen die Wahrnehmung des Rezipierten. Man kann durchaus sagen, dass jeder "seinen eigenen Film" sieht. Die Ergebnisse der quantitativen Auswertung zeigen, dass eine Neigung zu okkulten Beliefsystemen und Handlungsweisen sich zwar in einer verstärkten Orientierung an nicht-rationalen Filminhalten niederschlägt, aber nicht zwangsläufig mit einer Vorliebe für Horrorfilme einhergeht. Umgekehrt lassen sich bei ausgesprochenen Horrorfans solche Neigungen und eine besonders starke Orientierung an nicht-rationalen Filminhalten nicht prinzipiell nachweisen. 17) Die Nähe zu gesellschaftlich tabuierten Themen wie Aggressivität und (bedingt) Sexualität scheint ein entscheidendes Moment zu sein, welches Horrorfilme für manche Jugendliche in einer bestimmten Entwicklungsphase zu einem prädestinierten Filmgenre macht.

Die Einzelfallstudien bieten ein vielschichtiges Bild des Umgangs mit solcherart Medieninhalten. Manchen Jugendlichen geben Horrorfilme die Möglichkeit zur Auseinandersetzung mit eigenen Ängsten und starken Emotionen im geschützten Rahmen. Einigen missfällt dieses Genre aus Mangel an Realitätsbezug, während andere ein Mangel an Phantastik feststellen, wie sie sie in Science Fiction- oder Fantasy-Angeboten finden. Der spielerische Umgang mit phantastischen Inhalten kann eskapistischen Motiven entspringen und damit Ausdruck einer Verweigerung der Auseinandersetzung mit den anstehenden Entwicklungsaufgaben sein. Andere Jugendliche wiederum verstehen solche narrativen Fiktionen allegorisch und scheiden sehr stark die Sphären von Realität und Fiktion. Hier kann ein spielerischer Umgang mit solchen Inhalten durchaus entwicklungsförderlich sein. Dies alles zeigt, dass man sich eines generalisierenden Urteils bezüglich des Nutzens oder der Gefahr, die im Konsum von Horrorfilmen für Jugendliche liegen kann, enthalten muß. Dem aus pädagogischer Sicht verständlichen Wunsch nach einer einfachen und klaren Bewertung kann leider nicht entsprochen werden. Man kommt nicht umhin, den Einzelfall in seinem gesamten Bedingungsgefüge zu betrachten, will man ihm und der Sache gerecht werden.

 

Aus forschungsmethodischer Perspektive erwies sich die Kombination von quantitativen und qualitativen Erhebungsmethoden als sehr fruchtbar. Durch die Verwendung von normierten Fragebögen konnte die Stichprobe in ihren Werten mit den Eichstichproben verglichen werden. 18) Der Umfang von N = 50 Vpn. wiederum bot eine hinreichend große Datenbasis für hypothesentestende Korrelationsberechnungen. Allerdings stößt man bei der Komplexität des Zusammenhangs von thematischer Voreingenommenheit und individueller Rezeptionsstrategie schnell an die Grenzen der Möglichkeiten statistischer Auswertung (multiples Testproblem). Der Schwerpunkt der Untersuchung lag jedoch im explorativen, hypothesengenerierenden Teil. Ziel war es, möglichst unvoreingenommen, offen und unmittelbar die individuellen Rezeptionsprozesse zu erfassen. Dafür erwies sich die "Stopp-Technik" von Hawkins et al. (1991) als sehr geeignet. Die im Anschluss an die "Stopps" gestellten offenen Fragen ("Was geht dir jetzt gerade durch den Kopf?") induzierten ein großes Spektrum an unterschiedlichsten Antworten, die die individuellen Unterschiede in der Rezeption sehr deutlich machten. Die mit dem Forschungsdesign verbundenen Begrenzungen in den Möglichkeiten der statistischen Auswertung wurden in Kauf genommen, da man aus den Ergebnissen bei einem Pool von 50 Vpn. einen guten Überblick über Variabilität der Antworten bekommt, die vor der Untersuchung nicht bekannt war und abgeschätzt werden konnte. Auf der Basis dieser Daten konnten geeignete Einzelfälle für eine differenziertere Analyse ausgewählt werden. Eine solche qualitative Auswertung scheint für die Erfassung individueller Rezeptionsstrategien aufgrund der Komplexität des Geschehens unumgänglich.

Die Typologie der Grundformen des Umgangs mit "okkulten Darstellungen" in Filmen wurde induktiv aus dem angefallenen Datenmaterial hergeleitet. Sie müsste anhand weiteren Materials überprüft werden. Durch die Auswahl von Filmmaterial, das durch "Risse im Alltäglichen", also durch nicht-rationale Elemente in der Filmhandlung gekennzeichnet ist, die in einer ansonsten nach den üblichen Naturgesetzen funktionierenden Welt stattfindet, wird das Spannungsfeld Fiktion – Realität (Alltagsrationalität) in besonderem Maße fokussiert. Das legt einen Vergleich mit den Ergebnissen der Perceived Reality-Forschung nahe (ein Überblick bietet Rothmund, Schreier, & Groeben 2001a; vgl. auch Rothmund, Schreier, & Groeben 2001b). Dieser Vergleich wurde im Rahmen der Untersuchung nicht durchgeführt, doch erscheint ein Bezug auf diese Ansätze vielversprechend gerade im Zusammenhang mit einem solchem Stimulusmaterial. Hier bedarf es noch weiterer Forschungsbemühungen.


 

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Endnoten

1) Diese Untersuchung wurde im Rahmen der Abteilung Kulturwissenschaftliche und wissenschaftshistorische Studien am Institut für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene e.V. in Freiburg durchgeführt. Der ausführliche Abschlussbericht wurde als Dissertation veröffentlicht (Mayer 2000). -> zurück

2) Aus Platzgründen kann hier nicht ausführlich auf Zusammensetzung und Rekrutierung der Stichprobe eingegangen werden. Diese Informationen finden sich in Mayer 2000. Es handelte sich vor allem um Gymnasiasten (N = 29) und Berufsschüler bzw. Personen in einer berufsbildenden Maßnahme (N = 14). Von den 50 Vpn. waren 31 männlichen und 19 weiblichen Geschlechts. Sie wussten vorab, dass es sich bei dem gezeigten Stimulusmaterial um einen Film mit „okkulten“ Inhalten handelt. Es handelte sich um eine „Normalpopulation“, unter denen einige als „Horrorfans“ bezeichnet werden können.  -> zurück

3) Die erste Frage direkt nach dem Abstoppen des Films war immer eine offene Frage: „Was geht dir jetzt gerade durch den Kopf?“ Danach erst wurden einige Fragen nach speziellen Filminhalten bzw. Szenen, nach den eigenen Bewertungen usw. gestellt.   -> zurück

4) Auch hier muss aus Platzgründen für ausführlichere Informationen auf Mayer 2000 verwiesen werden.  -> zurück

5) Ausführlich in Mayer 2000.  -> zurück

6) r = ,249 (50); p < .10. Der explorative Ansatz und das aufgrund des großen Aufwands der Datenerhebung und -auswertung relativ geringe N von 50 Probanden führten zur Entscheidung, für die Interpretation der quantitativen Ergebnisse mit einem alpha-Fehlerniveau von 10% zu arbeiten (vgl. Bortz 1993: 118).  -> zurück

7) r = ,395 [46]; p < .01  -> zurück

8) Einfaktorielle ANOVA: F (2,47) = 3,035 (p < .10)  -> zurück

9) Einfaktorielle ANOVA: F (1,46) = 6,064 (p < .05)  -> zurück

10) Einfaktorielle ANOVA: F(1,48) = 2,933 (p < .10)  -> zurück

11) N = 16. Sieben Jugendliche gaben an, oft, weitere neun manchmal solche Filme zu sehen. -> zurück

12) Politik: F(1,48) = 5,186 (p<.05); Sexualität: F(1,48) = 3,148 (p<.10).  -> zurück

13) r = ,297 [50]; p < .05  -> zurück

14) Eine detaillierte Darstellung findet sich in Mayer 2000.  -> zurück

15) Eine weitere Differenzierung der „Horrorfans“ wäre zwar wünschenswert und vielversprechend gewesen, doch konnte sie aufgrund der geringen Gruppengröße und des multiplen Testproblems nicht durchgeführt werden.  -> zurück

16) Zur Erhöhung der Plausibilität dieses Modells müssten alle sieben Fälle vorgestellt werden, was jedoch aus Platzgründen an dieser Stelle nicht geschehen kann. Siehe Mayer 2000, Kap. 7.  -> zurück

17) Nach Abschluss dieser Untersuchung, die als Dissertation im Zeitraum von 1996 bis 1999 durchgeführt worden war, erschien der Ergebnisbericht einer weiteren medienpsychologischen Studie, die verschiedene Rezeptionsstrategien von Zuschauern der Fernsehserie „Akte X“ untersuchte (Markert & Suckfüll 2001). Die dort gefundenen Ergebnisse scheinen unseren Befund zu bestätigen: „Wer angibt, Fan der Serie ‚Akte X‘ zu sein, erreicht keineswegs – wie man vermuten könnte – höhere Werte auf der Skala für Items wie ‚... sind für mich die unerklärlichen Phänomene ausschlaggebend‘ oder ,... bin ich enttäuscht, wenn das Übersinnliche nicht im Vordergrund steht‘. Eine mögliche Schlussfolgerung wäre, dass sich die ‚Akte X‘-Fans in der hier betrachteten Stichprobe nicht in erster Linie durch die Faszination.an der parawissenschaftlichen Thematik auszeichnen.“ (S. 22)  -> zurück

18) Die Stichprobe unterschied sich in den vier verwendeten FPI-R-Skalen nicht signifikant von der Eichstichprobe, mit Ausnahme der Skala „Extraversion“: Weibliche Vpn. erreichten darin signifikant höhere Werte als die entsprechende Vergleichsgruppe der Eichstichprobe. Darin zeigte sich möglicherweise ein Selektionseffekt: Es erwies sich als schwieriger, weibliche Jugendliche als Teilnehmerinnen zu gewinnen. Ein höherer Grad an Extraversion war möglicherweise gerade bei dieser Gruppe ein wichtiger Faktor, der zur Bereitschaft der Teilnahme an einem solchen Experiment beitrug.  -> zurück


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